Monday 26 March 2012

Traditionspflege und Erinnerungskultur


Jakob Knab (SanAk München, 27. März 2012)

„Die Stärkeren im Geiste“
Erinnerungskultur und Traditionspflege der Bundeswehr in neuen Bahnen?


Anrede

Mein aufrichtiger Dank gilt dem Kommandeur der Sanitätsakademie für die Einladung zu diesem Festakt. Es ist eine große Ehre für mich, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Fast 20 Jahre ist das nun her: Im Frühsommer 1994 schrieb Inge Scholl, die älteste der Scholl-Geschwister, an den damaligen Bundesminister Volker Rühe: „Am 18. Februar 1943 wurden meine Geschwister Hans und Sophie Scholl in München verhaftet. Sie hatten mit Flugblättern, mit denen sie das NS-Regime anprangerten und entlarvten, einen offenen Widerstand gewagt. Das letzte Flugblatt knüpfte an die verlorene Schlacht von Stalingrad an, wo dreihundertdreißigtausend deutsche Männer in Tod und Verderben gehetzt wurden. Ebenfalls am 18. Februar 1943 verkündete Propagandaminister Joseph Goebbels im Sportpalast Berlin den ‚totalen Krieg’.“ (…)

In jenem Brief fuhr Inge Scholl fort: „Knapp dreißig Kasernen der Bundeswehr tragen die Namen von Helden aus Hitlers verbrecherischen Angriffskriegen. Nur zehn Kasernen sind nach den hochherzigen Männern des 20. Juli 1944 benannt. Dieses skandalöse Missverhältnis entlarvt die Sonntagsreden der verantwortlichen Politiker. Der hallende Ruf meines Bruders Hans vor seiner Hinrichtung „Es lebe die Freiheit!“ hat die Abgründe der Traditionspflege nicht erreicht.“

Der Minister ließ antworten. Hier ein Auszug aus diesem Schreiben: „Für die Bundeswehr ist es selbstverständlich, in ihrer Bildungs- und Erziehungsarbeit die Zeit der Wehrmacht nicht aus dem Bewusstsein der Soldaten zu tilgen (…), ohne dabei die Wehrmacht als Institution in ihrer Gesamtheit in die Traditionspflege einzuschließen.“ (…) „Ich kann Ihnen versichern“, so endete das Schreiben, „dass in der Bundeswehr sehr sorgsam mit Geschichte und Tradition umgegangen wird und jeder Einzelfall genau geprüft und beurteilt wird.“

Es stimmt, der Einzelfall „Generaloberst-Dietl-Kaserne“ in Füssen wurde sieben Jahre lang geprüft; fünf Einzelgutachten wurden in Auftrag gegeben.
Es ist hier nicht der Ort und der Anlass, auf Dietls schuldhafte Verstrickungen einzugehen. Doch da wir uns hier in München befinden, nur ein Schlaglicht: Im November 1943, zum 20. Jahrestag des Marsches auf die Feldherrnhalle, beendete Generaloberst Dietl seine Durchhalterede mit diesem Bekenntnis: „Ich erkläre feierlich: Ich glaube an den Führer!“

Am 9. November 1995 schließlich – ungewollt am geschichtsträchtigen
9. November – verfügte Minister Rühe die Neubenennung der „Generaloberst-Dietl-Kaserne“ in „Allgäu-Kaserne“. Ebenfalls im November 1995 wurde die „General-Kübler-Kaserne“ in Mittenwald in „Karwendel-Kaserne“ umbenannt. (Nota bene: Bei jener „Kübler-Kaserne“ handelt es sich um die frühere „Ludendorff-Kaserne“. 1962 hatte der damalige Bundesminister Franz Josef Strauß die Weisung gegeben, den Traditionsnamen „Ludendorff“ alsbald zu tilgen.)

Hier noch einige weitere Umbenennungen der vergangenen Jahre:

Im März 1998 wurde in Koblenz die Bezeichnung „Ernst-Rodenwaldt-Institut“ entfernt.

Im Januar 2005 entschied Bundesminister Struck, den Traditionsnamen „Mölders“ zu tilgen.

Im November 2010 wurde die „Lettow-Vorbeck-Kaserne" im ostfriesischen Leer in „Evenburg-Kaserne“ umbenannt. (Dies ist zuvörderst dem geschichtspolitischen Gespür des damaligen Oberstarztes Dr. Schoeps zu verdanken!)

Eine anknüpfungsfähige Erinnerungskultur wurde auch begründet, als im Februar 2006 die ehemalige Frankenstein-Kaserne in Pfungstadt (bei Darmstadt) in Major-Karl-Plagge-Kaserne umbenannt wurde. Major Plagge (1897 – 1957) war ein Offizier der Wehrmacht, der mindestens 250 ihm zugewiesene jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung bewahrte.

Großes mediales Aufsehen (u.a. New York Times) erregte am 8. Mai 2000 der damalige Bundesminister der Verteidigung Scharping, als er die „Rüdel-Kaserne“ in Rendsburg neu nach Feldwebel Anton Schmid (1900 – 1942) benannte. Feldwebel Schmid, dieser „Gerechte unter den Völkern“, ist die Ikone des Rettungswiderstandes; denn er hatte in Litauen etwa 300 Juden das Leben gerettet. Während der NS-Gewaltherrschaft gab es in allen Bereichen der Gesellschaft mutige Menschen, die ihrem Gewissen folgten und ihr eigenes Leben riskierten, um Verfolgten zu helfen und deren Leben zu retten.

Da der Standort Rendsburg aufgelöst wurde, erlosch auch der Traditionsname „Feldwebel Schmid“. Es besteht jedoch die Aussicht, dass zum 70. Jahrestag der Hinrichtung von Anton Schmid am 13. April 1942 nun im April 2012 ein Lehrsaalgebäude in Todendorf (Schleswig-Holstein) nach „Feldwebel-Schmid“ benannt wird.

Damit steht dieser Traditionsname auch für den Neologismus „Transportabilität der Traditionspflege“. Der prominenteste Name hier ist „Stauffenberg“, da der Standort Sigmaringen (mit der Graf-Stauffenberg-Kaserne) aufgelöst wird. Die Frage lautet: An welchen neuen Standort wird der Traditionsname „Stauffenberg“ transportiert?

Wenn im Untertitel meines Geleitwortes die Frage gestellt wird, ob sich Erinnerungskultur und Traditionspflege der Bundeswehr in neuen Bahnen bewegen, dann möchte ich festhalten: Seit Jahrzehnten wurde keine Liegenschaft der Bundeswehr mehr nach einem Kriegshelden der Wehrmacht benannt; historisch belastete Traditionsnamen wurden – freilich nicht ohne Anstöße aus der Zivilgesellschaft – getilgt. Wir sind Zeugen, wie durch Persönlichkeiten aus dem militärischen Widerstand wie Stauffenberg, Henning von Tresckow und Julius Leber, durch Namen aus dem Rettungswiderstand wie Anton Schmid und Karl Plagge sowie dank der heutigen Benennung nach der charismatischen Gestalt Hans Scholl eine Sinn stiftende Erinnerungskultur in der Bundeswehr wächst und gedeiht.

Tradition ist wertende Auswahl aus der Geschichte.

Hier muss auch der Vater der Inneren Führung genannt werden: Die Baudissin-Kaserne gehört zur Führungsakademie in Hamburg; der große Saal im Zentrum Innere Führung in Koblenz ist nach Baudissin benannt. Weiterhin gilt der Traditionserlass vom September 1982; er stammt noch aus der Zeit von Minister Hans Apel. Ich zitiere die für uns entscheidende Stelle: „Kasernen und andere Einrichtungen der Bundeswehr können mit Zustimmung des Bundesministers der Verteidigung nach Persönlichkeiten benannt werden, die sich durch ihr gesamtes Wirken oder eine herausragende Tat um Freiheit und Recht verdient gemacht haben.“

Zurück zum nunmehr traditionswürdigen Sanitätsfeldwebel Hans Scholl, der
sich durch herausragende Taten um Recht und Freiheit verdient gemacht hat.
Dabei möchte ich zunächst einen Brief seiner Schwester Sophie vom Oktober 1942 in Erinnerung rufen; dessen Inhalt ein kostbares Dokument des Widerstandes gegen die NS-Ideologie ist. In diesem Brief an ihren Freund, den Hauptmann Fritz Hartnagel, nannte die 21jährige Studentin jenes angebliche „Naturgesetz vom Sieg des Mächtigen über das Schwache“ … „schrecklich und unempfindsam.“ Ihre Zeilen gipfelten in dem Bekenntnis: „Ja, wir glauben auch an den Sieg der Stärkeren, aber der Stärkeren im Geiste.“ Sophie Scholl widersagte dem Ungeist des Rassismus, sie vertraute der Kraft des Geistes.

Auch bestärkt von diesen Einsichten richteten Dr. Detlef Bald (München) und ich im Frühjahr 2006 eine Eingabe an den Inspekteur des Sanitätsdienstes. Hier wiederum ein Auszug: „Wir treten heute mit der Anregung an Sie heran, die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München neu in ‚Sanitätsfeldwebel-Scholl-Akademie’ zu benennen.“

Wir würdigten Hans Scholl so: „Hans Scholl war der charismatische Kopf der Weißen Rose. Schon im ersten der ‚Flugblätter der Weissen Rose’ rief er zum Widerstand gegen das ‚Weiterlaufen der atheistischen Kriegsmaschine’ auf. Im Sommer und Herbst 1942 machten die Medizinstudenten der Weißen Rose als Sanitätsfeldwebel ihre Erfahrungen mit dem Vernichtungskrieg und der Besatzungsherrschaft der Wehrmacht direkt an der Ostfront vor Moskau. Schon früh prangerten sie die Verfolgung und Vernichtung der Juden an. Sie klagten die Verantwortung der Wehrmachtsführung ein.“

Weiter schrieben wir über diese Sanitätssoldaten im Widerstand: „Wenn Widerstand eine Leitlinie für das Traditionsverständnis der Bundeswehr darstellt, dann ist der Militarismus, der die deutsche Geschichte geprägt hatte, endgültig überwunden. Es ist ein Vermächtnis des deutschen Widerstandes, dass sich jeder Befehl an den Grundwerten Recht und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde orientieren muss. Eine Namensgebung ‚Sanitätsfeldwebel-Scholl-Akademie’ wäre dafür ein sinnenfälliger Ausdruck. ‚Es lebe die Freiheit!’ – dieser letzte Ruf von Hans Scholl würde dann auch in der Traditionspflege der Bundeswehr seine Würdigung finden.“

Das Antwortschreiben war betont freundlich gehalten. Doch wieder zogen Jahre ins Land.

Ein weiterer Vorstoß folgte von Karl Freller, dem Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Ende Dezember 2009. Darauf antwortete der damalige Bundesminister Freiherr zu Guttenberg Ende Januar 2010 so:
„Hans Scholl ist ohne Zweifel eine für die Bundeswehr traditionswürdige Persönlichkeit und grundsätzlich als Namensgeber einer Kaserne oder Einrichtung geeignet.“

Nunmehr wurde diese Traditionsfrage nicht mehr in Jahrzehnten abgehandelt, sondern es ging vorwärts – Jahr um Jahr. Es gibt wohl glückliche Fügungen: Am Aschermittwoch 2011 war ich in Murnau eingeladen, um einen Vortrag über Christoph Probst von der Weißen Rose zu halten. Der örtliche Redakteur Roland Lory befasste sich schon seit Jahren auch mit Geschichtspolitik und Traditionspflege. In seinem Beitrag für eine Wochenzeitung („Der Freitag“ vom 19. April 2011) beklagte er das „gedenkpolitische Versagen“, da die Bundeswehr keinen großen Eifer an den Tag lege, den Widerstandskämpfer Hans Scholl zu ehren. Freilich: die Jahrzehnte und die Jahre gehörten der Vergangenheit an, nun ging die Entwicklung Monat um Monat voran.

Im Juli 2011 waren Detlef Bald und ich bei Generalarzt Dr. Stephan Schoeps,
Ihrem Kommandeur, sowie Flottenarzt bei Dr. Volker Hartmann eingeladen.
Gerne denke ich zurück an dieses Kennenlernen und an diesen Gedankenaustausch, getragen von gegenseitigem Vertrauen und einem gemeinsamen Anliegen verpflichtet.

Eine weitere wichtige Etappe auf diesem weiten Weg zur heutigen Namensgebung war das 3. Wehrmedizinische Symposion, das Mitte November vergangenen Jahres hier stattfand. Gestatten Sie mir, dass ich einen Gedanken meines Vortrags über Scholl und Stauffenberg aufgreife: „Den Verschwörern des 20. Juli 1944 war klar, dass der Sturz des Regimes nicht von einer Volkserhebung getragen würde. Deshalb setzte sich der Plan Walküre zum Ziel, sich der Wehrmacht, einer machtvollen Säule des NS-Regimes, zu bemächtigen. Hans Scholl und seine Freunde von der Weißen Rose hingegen – so die anrührenden Worte Golo Manns – ‚fochten gegen das Riesenfeuer mit bloßen Händen.’“

Es geht hier um den Unterschied zwischen militärischem Widerstand und Soldaten im Widerstand. Als Hans Scholl nach der Verhaftung am 18. Februar 1943 von der Gestapo verhört wurde, gab er u.a. zu Protokoll: „Ich gelangte nach vielen qualvollen Überlegungen zu der Ansicht, daß es nur noch ein Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee gebe, nämlich die Verkürzung des Krieges. Andererseits war mir die Behandlung der von uns besetzten Gebiete und Völker ein Greuel.“

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich möchte Generalarzt Dr. Schoeps und Flottenarzt Dr. Hartmann meine Anerkennung aussprechen. Denn Ihrem wachen Gespür für die Zeichen der Zeit ist es zu verdanken, dass ab heute Hans Scholl ein traditionswürdiges Vorbild der Bundeswehr ist. (Für diese Verdienste um die Erinnerungskultur gebührt ihnen unser Beifall!)

Ich möchte mein Lob auch zum Ausdruck bringen, indem ich einen bedenkenswerten Satz aus dem großen Dokument Gaudium et Spes („Freude und Hoffnung“) des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) anführe:

Wer als Soldat im Dienste des Vaterlandes steht,
betrachte sich als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker.
Indem er diese Aufgabe recht erfüllt,
trägt er wahrhaft zur Festigung des Friedens bei
.“

Recht verstandene Traditionspflege und Erinnerungskultur, so denke ich, sind unverzichtbar. Nur wenn Geschichte gedeutet wird, gewinnt sie für uns auch existenzielle Bedeutung. Wer sich mit Geschichte befasst, der möchte an die Vergangenheit erinnern, die Gegenwart verstehen, die Zukunft gestalten. Nur wer die eigene Identität als Ergebnis vorausgegangener Entwicklungen kennt und richtig auslegen kann, wird die Gegenwart verantwortungsvoll gestalten sowie der Zukunft unverzagt entgegen gehen. So gesehen ist die Geschichte des Widerstandes eine Herausforderung für die nachlebenden Generationen.

Das letzte Flugblatt der Weißen Rose spricht vom Kampf für die Zukunft, von Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen. Diese Grundwerte sind auch für uns Richtschnur und Wegweisung.

Hans Scholls letzter Ruf „Es lebe die Freiheit!“ war zunächst vergeblich – sinnlos war er nicht!